Vertrieb in der Praxis – Qymatix interviewt Vertriebsexperte Dr. Olivier Riviere

Mitglieder 13.10.2016 Qymatix Solutions GmbH

Die Digitalisierung hat in B2B Vertrieb zu Veränderungen geführt. Wir haben mit Dr. Olivier Riviere , Vertriebsexperte und Berater, über die Veränderungen im Vertrieb im digitalen Zeitalter gesprochen.

Herr Riviere, wir kennen uns bereits. Stellen Sie sich doch kurz unseren Lesern vor.

Ich bin ein leidenschaftlicher Europäer – mit einem französischen Pass – der seit 20 Jahren in München wohnt. Nach meiner Promovierung im Bereich Materialkunde habe ich immer für technologie-orientierte Firmen gearbeitet und war in den Bereichen Marketing, Kommunikation und Vertrieb tätig. Seit 2009 bin ich als Unternehmensberater unterwegs mit dem Fokus auf Vertriebsexzellenz, Key Account Management, Marketing und Vertrieb von Lösungen und Einflussmechanismen. In den letzten 3 Jahren hatte ich Aufträge in mehr als 15 verschiedenen Ländern.

Herr Riviere, Sie beschäftigen sich intensiv mit Key Account Management Training. Warum finden Sie Key Account Management Training wichtig in B2B-Unternehmen?

Es geht nicht nur um Training, es geht um echtes Key Account Management. Schulung und Coaching sind nur Mittel zum Zweck, die einem größeren Ziel dienen, die echten Schlüsselkunden zu identifizieren und die Beziehungen und das Geschäft mit ihnen spezifisch zu entwickeln. Mit Schlüsselkunden meine ich die wenigen Kunden, die wirklich für die Firma von besonderer strategischer Bedeutung sind.

Was hat sich Ihrer Meinung nach im Vertrieb in den letzten 10 Jahren geändert?

Es ist viel schwieriger geworden, neue Kunden zu gewinnen. Die potentiellen Entscheidungsträger sind mit Kontaktanfragen überflutet und haben keine andere Wahl, als sich zu wehren. Deshalb ist der Zugang zu Ihnen so schwierig. Dazu kommt, dass die Einkaufsentscheidungen sich immer mehr verzögern. Manche Forschungen zeigen, dass immer öfter gar keine Entscheidung getroffen wird. Natürlich darf man nicht auf Kundenakquise verzichten, aber in diesem Kontext ist es eben wichtiger geworden, das volle Potential bestehender Kunden zu nutzen. Das ist genau da wo Predictive Sales Analytics von großer Bedeutung ist.

Wo sehen Sie den Vertriebsleiter und Key Account Manager in 10 Jahren? Wo sehen Sie Ihren Job in 10 Jahren?

Für die meisten Firmen wird sich die Welt des Vertriebs zwischen einem sehr automatisierten Vertriebsmodell und einem Key Account Management Model polarisieren. Diese Evolution hat schon begonnen.

Das automatisierte Modell ist auf Marketing- und Vertriebsautomation und Innendienst (Inside Sales) basiert. Mit den Veränderungen des Einkaufsverhalten und dem Wachstum digitaler Werkzeuge kann dieses Model fast alle traditionellen Vertriebssituationen behandeln.

Das Key Account Management Modell ist für Kunden und für Situationen geeignet, wo das Angebot von Lösungen und Dienstleistungen sich an spezifischen Bedürfnissen der Kunden anpassen muss. Modernes Key Account Management bedeutet auch eine Zusammenarbeit zwischen dem Kunden und dem Lieferant, um eine komplette Lösung zu definieren. Manche Firmen betrachten schon diese Zusammenarbeit als eine strikte Voraussetzung, um einen Kunden als echten Key oder Global Account zu betreuen.

Der Vertriebsleiter muss den Weg zeigen, die Vertriebsstrategie definieren und gewährleisten, dass das Vertriebsmanagementsystem effizient funktioniert. Er muss sich auch als Coach seiner Mannschaft positionieren. Der Key Account Manager muss ein vielfältiger interner Unternehmer sein.

Da ich den Fokus auf B2B und Complex Sales habe, wird sich mein Job immer mehr auf die Integration und Zusammenarbeit von Marketing, Vertrieb und Client Service und auf den Aufbau von Einflussmechanismus fokussieren. Es wird auch immer wichtiger, dass der Berater eine reiche vielfältige Erfahrung hat und dass er als Coach mit seinen Kunden arbeitet und nicht als „Besserwisser“.

Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die Digitalisierung im Vertrieb? Wo sehen Sie den Menschen?

Es gibt zwei Ebenen: eine die mit der ganzen Firma verbunden ist und die andere mit Marketing und Vertrieb. Bei der Firmenebene bedeutet Digitalisierung die rasche branchenübergreifende Evolution oder Revolution von Geschäftsmodellen. Das ist eine massive und dauerhafte Änderung der Geschäftswelt und der Gesellschaft. Im B2B ist diese (R)Evolution oft mit einem Wandel von Produkten nach Lösungen verbunden. Das ist fast immer eine ernste Herausforderung für die ganze Firma und besonders für Marketing und Vertrieb.

Bei der mit Marketing und Vertrieb verbunden Ebene bedeutet Digitalisierung, dass eine Palette von möglichen neuen Werkzeugen zur Verfügung von Marketing- und Vertriebsprofis stehen. Mobilgeräte, Softwareanwendungen und soziale Netzwerk ermöglichen neue Wege, Informationen auszutauschen und den Dialog mit einem Kunden zu führen. Der Mensch bleibt aber im Zentrum und die soziale Intelligenz wird nicht weniger als früher gebraucht, im Gegenteil. Das finde ich gut und spannend.

Sie sind in der Welt schon viel herumgekommen. Können Sie Unterschiede im Vertrieb feststellen, abhängig vom Land und der Kultur, in der Sie sind? Zwischen Frankreich und Deutschland?

Für internationale Firmen werden meiner Meinung nach die Kultur der Firma und die Personalität und der Werdegang jeder Person eine größere Rolle spielen, als die Nationalität.

Wenn ich Frankreich und Deutschland vergleichen soll – und das ist eine schwarzweiß Beschreibung – würde ich sagen, dass der Unterschied vor 20 Jahren in vielen Firmen ziemlich groß war. In Deutschland war der Außendienst Mitarbeiter wie die letzte Etage einer Rakete die nur am Ende eines langen Prozesses (Marketing) zum Einsatz kommt oder wie der Spitzenstürmer im Fußball der allein kein Tor schießen wird. Im Gegensatz dazu haben die Franzosen im Bereich Vertrieb fast alles auf Individualismus gesetzt mit viel mehr Autonomie aber viel weniger Teamarbeit als in Deutschland. Dieser Unterschied ist heute viel kleiner geworden und in vielen Firmen verschwunden.

Wie hat sich Ihr Beratungsgeschäft in den letzten Jahren verändert?

Vor zehn Jahren arbeitete ich noch nicht als Berater. Ich habe 2009 angefangen. Meiner siebenjährigen Erfahrung nach, sind die gemeinsame Entwicklung von Systemen und Werkzeugen mit dem Kunden und das Thema Begleitung (Coaching) wichtiger geworden.

Welche Rolle werden Predictive Analytics Lösungen Ihrer Meinung nach spielen?

Predictive Analytics können potentiell eine sehr große Rolle spielen in den Bereichen Vertriebseffizienz und Vertriebsexzellenz. Das Konzept kann helfen, die Kunden viel präziser zu bewerten und den erwarteten Beitrag jedes Kunden an die Umsetzung der Vertriebsstrategie zu definieren und zu messen.

Predictive Analytics Lösungen werden bereits jetzt im Großhandel und der Versicherung eingesetzt. Worin sehen Sie den wesentlichen Mehrwert für eine mittelständische Key Account Management Vertriebsmannschaft?

Am Anfang sollte es nicht um Key Account Management gehen. Es geht um eine vollständige und absolut relevant Analyse des gesamten Kundenportfolios zu führen. Diese Analyse ist eine reine Voraussetzung um die Vertriebsleistung zu erhöhen. Sie hilft Entscheidungen über die Organisation der Vertriebsmannschaft und das individuelle Kundenportfolio jedes Vertriebsmitarbeiters zu treffen. Dann kann man sich Fragen über die größeren und die wirklich strategischen Kunden stellen und die sogenannten Key Accounts auszuwählen. Wann man die Lage und Key Accounts definiert hat, ist selbstverständlich Predictive Analytics sehr relevant um Ziele zu setzen, einen Account Plan zu entwickeln und die Fortschritte und Ergebnisse zu bewerten.

Wo sehen Sie Schwachstellen im heutigen Key Account Vertrieb?

Leider fast überall! Die Definition von „Key“ ist oft viel zu vage. Bei vielen Firmen werden alle oder fast alle Kunden als Key Accounts betrachtet. Das ist sinnlos. Bei anderen Firmen werden die größeren Kunden automatisch als Key Accounts eingestuft, ohne sich die richtige Frage über ihre echte strategische Relevanz zu stellen. Die Konsequenz ist, dass die Firma ihre Ressourcen nicht auf die besseren Kunden investiert. Eine vernünftige Lösung dieses Problems ist nicht sehr aufwendig zu finden, wird aber selten gesucht und implementiert.

Nach unseren Beobachtungen ist Excel in vielen mittelständischen Unternehmen immer noch das Tool der Wahl, wenn es um Sales Analysen geht. Woher kommt dieses Vertrauen auf ein fehleranfälliges und zeitraubendes Tool?

Das kommt wahrscheinlich von einer Kombination aus Gewohnheit, ein bisschen Faulheit aber vielleicht auch von einer gewissen Hoffnungslosigkeit, dass die Anforderung nach besseren Werkzeuge nicht vom Top Management und von IT wahrgenommen wird. Vielleicht gibt es auch andere Gründe. Die Lösung sollte aus einem Dialog zwischen Vertrieb, Controlling und IT kommen.

In unserem Blogartikel haben wir einen Ausblick auf den Vertrieb in 50 Jahren geworfen. Wie stellen Sie sich der Vertrieb der Zukunft vor?

50 Jahre? Ich weiß es nicht! Ich wünschte ich könnte lang genug leben, um in 50 Jahren beim Wiederlesen Ihres Artikels entweder Sie bewundern oder mich über Sie totlachen!

Durch das Internet und soziale Netzwerke sind Menschen besser informiert denn je. Spüren Sie das auch in Ihrer Branche?

Ja, aber die Wirkung ist nicht automatisch positiv. Auf einer Seite ist es möglich, im Internet viele Informationen zu finden und informell mit anderen Menschen Ideen und Erfahrung zu tauschen. Das ist sehr wertvoll. Auf der anderen (dunklen) Seite, wirkt das Internet wie ein Filter und der Modeeffekt ist manchmal problematisch, besonders in den Bereichen Marketing und Vertrieb. Zum Beispiel findet man zu wenig Informationen darüber, warum so viele CRM oder Vertriebsexzellenzprojekte miserable Ergebnisse bringen. Auf Internetforen schweigen die echten Spezialisten viel zu oft und was diskutiert wird, hat mit der Realität wenig zu tun. Das kann eine negative Wirkung haben.

Ob analog oder digital – Welche ist für Sie die beste Vertriebsmaßnahme?

Zuerst nach Fakten suchen, danach denken, oft umdenken und endlich handeln.

Vielen Dank für dieses Interview, Dr. Riviere.


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